Zur Kunst des formalen Denkens
Rainer E. Burkard, Wolfgang Maass, Peter Weibel (Hg.)

Peter Weibel, 1986

Einleitung

Anläßlich der Ausstellung "Jenseits von Kunst" in der Neuen Galerie in Graz vom 7. 2. - 30. 3. 1997 fand am 7. und 8. März 1997 ein Symposion mit dem Titel ``Zur Kunst des formalen Denkens'' statt, das von Rainer Burkard (Institut für Mathematik an der TU Graz), Wolfgang Maass (Institut für Grundlagen der Informationsverarbeitung an der TU Graz) und Peter Weibel (Neue Galerie am Landesmuseum Graz) konzipiert wurde[1]. Ziel dieser Ausstellung und des umfassenden begleitenden Schau- und Lesebuches "Jenseits von Kunst" (1997 ebenfalls im Passagenverlag erschienen), wo die Leistungen und Werke von hunderten österreichischen und ungarischen KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen mosaikartig vernetzt und nach einem neuartigen methoden- und problemgeschichtlichen Modell präsentiert wurden, war es, eine innovative und informative Kartographie der Kultur zu erstellen: die überwiegend verdrängte, vertriebene und unbekannte Kunst- und Wissenschaftsgeschichte von Österreich und Ungarn. Beide Länder haben von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart trotz der politischen Destruktionen und Obstruktionen analytische Kunstrichtungen (wie Konstruktivismus, Kinetik, optische Kunst, Körperanalyse, visionäre Architektur) und Denkströmungen (wie Sprachphilosophie, Spieltheorie, Kybernetik, Psychoanalyse, Quantenphysik) begründet oder wesentlich mitgetragen, die eigenständige, spezifische Beiträge zur Weltkultur bilden.

Es handelte sich also um keine traditionelle Kunstausstellung, sondern um die Darstellung einer kulturellen Produktion und kultureller Zusammenhänge, die von der offiziellen Kulturpolitik bis zur Unsichtbarkeit verdrängt wurden. Im Vergleich der beiden Länder österreich und Ungarn wurden kulturelle Leistungen sichtbar, die dem anderen wie dem eigenen Land aufgrund der oppressiven politischen Umstände (vom Kollaps der Monarchie bis zum Kalten Krieg) nicht vertraut sind.

Der Schwerpunkt wurde dabei auf analytische und abstrahierende Methoden der Weltauffassung (von den Formalwissenschaften zu den Formalkünsten) gelegt: erstens weil die Formalwissenschaften längst einen zentralen, wenn auch unsichtbaren Teil unserer Kultur bilden, die in so vielen Bereichen auf der Basis von Technologie konstituiert wird, und zweitens, weil Österreich und Ungarn gerade auf diesem Gebiet der analytischen Methoden überragende Leistungen erbracht haben, ganz im Gegensatz zu dem vom Inland wie Ausland entworfenen repressiven und reaktionären Bild eines barock-expressiven österreichs und Ungarns. Es mußte daher über die klassischen Disziplinen der Kunst hinausgegangen werden, um ein adäquates interdisziplinäres Bild der Kultur abseits der Klischees zeichnen zu können. Es wurden daher Leistungen in den formalen Künsten, in den Formalwissenschaften Mathematik und Logik sowie in jenen sozial- und naturwissenschaftlichen Disziplinen präsentiert, die mit formalen Methoden operieren.

Viele dieser Leistungen in den Formalwissenschaften und den formalen Künsten wurden und werden zwar von österreichischen und ungarischen BürgerInnen, aber zum Teil nicht in den Ländern österreich und Ungarn produziert. Unter anderem äußert sich dieses Defizit heute in Österreich in Form einer wenig ausgeprägten Breitenkultur und Innovationsfreudigkeit im Bereich der Computer- und Kommunikationstechnologie, mit entsprechenden nachteiligen wirtschaftlichen Konsequenzen für das Land.

Deswegen haben Wolfgang Maass und Peter Weibel für das Katalogbuch "Jenseits von Kunst" wider den fortlaufenden Exodus der Wissenschaft in Österreich eine konkrete Maßnahme vorgeschlagen, nämlich die Gründung eines Wissenschaftszentrums im Bereich der Formalwissenschaften zur Pflege des wissenschaftlichen Austausches mit österreicherInnen im Ausland. In leicht veränderter Form ist dieser Vorschlag auch in dieses Buch unter dem Titel "Brain Drain oder Internationalisierung" eingegangen.

Sondierende Gespräche mit der Politik auf Landes- wie auf Bundesebene in bezug auf die Gründung eines solchen Wissenschaftszentrums haben zwar Aufmerksamkeit und Verständnis, aber keine praktischen Folgen gefunden. Daher entstand die Idee, glücklicherweise sofort unterstützt von Prof. Rainer Burkard, im Rahmen unserer eigenen Möglichkeiten dem "brain drain" entgegenzuwirken und eben auf dem Gebiet der Formalwissenschaften im Ausland erfolgreich wirkende österreicher zu einem Symposion nach Graz einzuladen.

Nicht nur das Symposion selbst war ein entsprechender Erfolg mit großem Publikumsinteresse, sondern es gab auch individuelle Erfolge. Einer der eingeladenen Vortragenden, Wolfgang Woess, zum Zeitpunkt des Symposions 1997 noch Professor an der Universität von Mailand, ist ab Herbst 1999 ordentlicher Professor an der Technischen Universität Graz.

In den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts war Österreich das internationale Zentrum der Mathematischen Logik und der analytischen Philosophie, mit vielfältigen Beziehungen zur damaligen Kunst und Kultur in Österreich. Zu den Folgen der "Vertreibung der Vernunft" [Weibel und Stadler, 1993] gehört bekanntlich nicht nur das Fehlen jener Wissenschaftskultur, welche durch populärwissenschaftliche Darstellungen auch dem Nicht-Fachmann den Zugang zu den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen ermöglicht, sondern darüber hinaus und vor allem das Fehlen einer Allianz zwischen Kunst und Wissenschaft, zu schweigen von einer naturwissenschaftlichen Fundierung der Kultur. Die Kunst der Neuzeit ist in Wirklichkeit ebenso theorieabhängig wie die Naturwissenschaft der Neuzeit. Wie in dieser herrscht das Primat der Theorie vor der Erfahrung (siehe Maxwells Gleichung von 1873, welche auf die Existenz von elektromagnetischen Wellen hinwies, und ihrem empirischen Nachweis durch Heinrich Hertz 1888). Man könnte sogar sagen, die moderne Kunst ist eine Reaktion auf die maschinenbasierte industrielle Revolution wie die Nachmoderne eine Reaktion auf die informationsbasierte postindustrielle Revolution ist. Man muß das Denken offen halten, um auch in Bereiche vordringen zu können, die nicht direkt unserer Erfahrung zugänglich sind, und die Begriffsbildung verallgemeinern, um neue Erfahrungen, technisch vermittelt, neu einordnen zu können. In solch einem historischen Kontext ist Kultur ohne Wissenschaft nicht zu denken. Ganz im Gegenteil, es gehört zur Epistemologie der Epoche, daß Kunst und Wissenschaft einander bedingen, auch wenn das Wissen darum durch ideologische Umstände verloren ging. Dieses Buch möchte dazu beitragen, dieses zerschnittene Band zwischen Wissenschaft und Kunst wieder zu verknüpfen. Visuelle Kultur als die Gesamtheit der Formen visueller Repräsentationen in allen Medien unserer Lebenswelt kann heute auf eine analytische Denktradition und Fundierung nicht verzichten. Interdisziplinäre und interkulturelle Kompetenz bilden die Basis für zeitgemäße Bilder von Wissenschaft und Kultur. Ja, man könnte sogar sagen, daß sich das visuelle Denken der Kunst (z.B. Klee) und das formale Denken der Wissenschaft in der Moderne gegenseitig unterstützen. Die Komplementarität von logischem Denken und ``visuellem Denken'' (R. Arnheim, 1969) gehört offensichtlich zu den epistemologischen Bedingungen der Epoche. Der Kunst des visuellen Denkens wird daher eine Kunst des formalen Denkens zur Seite und gegenüber gestellt. Die Mathematik als formalste Wissenschaft hat auf die Künste seit jeher eine große Faszination ausgeübt und in Form von Proportion, Reihe, Serie, Symmetrie schon immer als Modell für die interne Organisation der visuellen und plastischen Elemente eines Bildwerks oder einer Skulptur gedient. Mathematische Methoden und informationstheoretische Modelle stellen für die Kunst immer wieder eine bedeutende Inspirations- und Orientierungsquelle dar. Auch der Mathematiker denkt in abstrakten Bildern, bevor er das Ergebnis seines visuellen Denkens formalisiert. Die Schnittstelle zwischen visuellem und formalen Denken ist unscharf. In einer zeitgenössischen Theorie der visuellen Kultur kann also zwischen formalem und visuellem Denken nicht mehr scharf unterschieden werden. Die visuelle Kultur von heute begründet sich eindeutig auf Ergebnisse der Kunst des logischen bzw. formalen Denkens. Gerade in den letzten Jahren und Jahrzehnten haben Mathematik und Informatik unsere historischen Vorstellungen umgeworfen, ganz neue Theorien entwickelt und neue Forschungsfelder entdeckt, deren Kenntnis auch für die Kunst von Relevanz sein kann.

Neue Ergebnisse und Forschungsfragen der Mathematik und Theoretischen Informatik werden in diesem Band durch allgemeinverständliche Essays von Spitzenforschern der Öffentlichkeit vorgestellt. Zusätzlich werden Parallelen, Divergenzen und Möglichkeiten zur methodischen und problemzentrierten Zusammenarbeit zwischen wissenschaftlicher Forschung und moderner Kunst erörtert. Zu den überraschenden Parallen, die sich hierbei ergeben, gehört, daß sich das Gesichtsfeld der Forschung in Mathematik und theoretischer Informatik in den vergangenen beiden Jahrzehnten drastisch erweitert hat und nunmehr - ähnlich wie die Gegenwartskunst - auch nichtdeterminierte offene Systeme und Prozesse umfaßt. Eine andere möglicherweise überraschende Perspektive, die sich aus diesem Band ergibt, ist das innerhalb der exakten Wissenschaften entstehende Wissen um prinzipielle Grenzen der Fähigkeiten von Computern, und das In-Frage-Stellen von herkömmlichen Denkkategorien zur Unterscheidung der Fähigkeiten von Mensch und Maschine. Auch dieser Aspekt eröffnet neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Künstlern und Wissenschaftlern. Schließlich wird in diesem Band demonstriert, daß traditionelle Bewertungskriterien von Kreativität, wie bedeutend oder unbedeutend, oberflächlich oder tiefsinnig, zufällig oder genial, nicht nur in der Gegenwartskunst, sondern auch in den formalen Wissenschaften ihren Sinn verloren haben. Mehrere Aufsätze in diesem Band zeigen, daß zum Beispiel Spielereien mit einfachen formalen Objekten, wie Primzahlen oder Kreisen, nicht trennbar sind von wissenschaftlichen Schlüsselfragen, die besondere Relevanz für unsere wirtschaftliche und technologische Zukunft haben.

Eine Reihe von Aufsätzen in diesen Band demonstrieren die vielfältigen Beziehungen zwischen formalem Denken und künstlerischer Arbeit. Nicht nur Peter Weibel zeigt in seinem Beitrag, wie bestimmte Ergebnisse und Theorien der Zahlentheorie schon immer die Praktiken und Forschungen in der Musik, Architekture und in der bildenden Kunst beeinflußt und fundiert haben, und daß in der Kunst des visuellen Denkens viele ästhetische interne Ordnungs- und Konstruktionsprinzipien wie Symmetrie, Harmonie, Proportion auf mathematische Vorstellungen basieren. Auch Wolfgang Woess und Raimund Seidel verweisen bei ihren Analysen von Zufalls- und Ordnungsprinzipien in Strukturen und Prozessen auf Parallelen zur Kunst. Ebenso werfen Herbert Edelsbrunners Ergebnisse ein Licht auf die Form und Funktion ästhetischer Objekte und Prozesse. Der bedeutende österreichische Zahlentheoretiker Wolfgang Schmidt spürt dem Ineinanderspiel von Ordnung und Chaos in der Zahlentheorie nach, das überraschende Analogien zur Kunst ergibt, und erläutert die Bedeutung von zunächst rein theoretischen Problemen für Schlüsselfragen der Kryptographie, die unter anderem die Grundlagen für die Abwicklung von Geschäftsvorgängen über das Internet schaffen.

Gottfried Tinhofer stellt einen besonders wichtigen Grundbegriff des formalen Denkens, den des Graphens, mit vielfältigen Beispielen vor, und demonstriert die Vielfalt und Ambivalenz des formalen Denkens zwischen reiner Mathematik räumlicher Vorstellungen, wichtigen Anwendungsproblemen wie dem Entwurf von Computer-Bausteinen und der Zuverlässigkeit des Internets, die von besonderer wirtschaftlicher Bedeutung sind, und formalen Fragen der Ästhetik. Rainer Burkard demonstriert in einem kurzen Streifzug durch die kombinatorische Optimierung, weshalb das wohlbekannte "Heiratsproblem" verwandt ist mit wichtigen Anwendungsproblemen wie zum Beispiel der Nachrichtenübermittlung über Satelliten, und stellt konkrete Beispiele der oft diskutierten Klasse der sogenannten ``NP-vollständigen'' Probleme vor, bei denen das Auffinden einer optimalen Lösung vermutlich so aufwendig ist, daß selbst die schnellsten Rechner hier an ihre Grenzen stoßen. Raimund Seidel demonstriert wie man zufällige Ergebnisse nutzen kann, um schwierige mathematische Probleme zu lösen (zum Beispiel dem Nachprüfen, ob eine vorgegebene große Zahl eine Primzahl ist), bei denen die üblichen (d.h. deterministischen) Algorithmen versagen. Herbert Edelsbrunner zeigt wie man bei einfachen Spielereien mit Kreisen und Kugeln auf ungelöste Probleme der Mathematik stößt, und gleichzeitig auf Grundprinzipien der Bausteine des Lebens, Proteine, wo Form in Funktion umschlägt. Wolfgang Woess untersucht Ordnungen, die sich im scheinbaren Chaos von Irrfahrten ergeben, und erläutert ``nebenbei'' wichtige Grundbegriffe und Probleme der reinen Mathematik. Im Beitrag von Wolfgang Maass wird das formale Denken gewissermaßen auf sich selbst angewendet. Es werden Ergebnisse über ``Rechnen'' in biologischen Neuronensystemen - wie zum Beispiel unserem Gehirn - vorgestellt, und es wird der Frage nachgegangen, weshalb es so schwierig ist, einen Computer zum Denken zu bringen.

Der Essay von Maass und Weibel erläutert die Problematik des brain drain am Beispiel der Situation der Mathematik und Theoretischen Informatik in Österreich, und entwickelt einen Vorschlag zur Verkehrung dieser bedenklichen Entwicklung in einen positiven Faktor bei der Internationalisierung dieser Wissenschaften in Österreich.

Im letzten Kapitel ``Links'' findet der Leser einige Webpages, auf denen weitere Informationen zu in diesem Band angeschnittenen Themen, sowie zu Studiumsmöglichkeiten in den betreffenden wissenschaftlichen Disziplinen erhältlich sind.



Wolfgang Maass und Peter Weibel

Anmerkungen

[1] Die Ausstellung "Jenseits von Kunst" in Budapest, Graz und Antwerpen, konzipiert und kuratiert von Peter Weibel, organisiert von Nadja Rottner, Christa Steinle (Graz), Dora Hegyi, Krisztina Szipöcs (Budapest) und wissenschaftlich koordiniert von Michael Stöltzner (Wien), György Kampis (Budapest), wurde zuerst, unterstützt vom wissenschaftlichen Beirat Laszlo Beke und Miklos Peternak, im Ludwig Museum Budapest vom 17.10. - 24.11.1996 gezeigt, wo sie von Elisabeth Mach, Leiterin des Österreichischen Kulturinstituts Budapest und Katalin Neray, Direktorin des Ludwig Museums Budapest, als Beitrag zum Österreichischen Millenium und ungarischen Millecentenarium initiiert worden ist.

Literatur

[Weibel und Stadler, 1993] Weibel, P., und Stadler, F. (1993). Vertreibung der Vernunft: The Cultural Exodus from Austria. Löcker Verlag, Wien. Erweiterte Neuauflage Springer Verlag, Wien New York, 1995.


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hx  Heike Graf
19-09-2000